Ein Provisorium mit Erfolgsgeschichte

Die Rittersturzkonferenz im Juli 1948

Im Juli 2023 jährt sich die sogenannte Koblenzer Rittersturzkonferenz zum 75. Mal. Auf gleichnamigem Rhein-Felsen trafen sich die deutschen Ministerpräsidenten, um nicht weniger als über die Zukunft Deutschlands zu beraten. Diese von den Westalliierten auferlegte und schwer lösbare Aufgabe führte zu einer genialen Provisoriumslösung. Heute zeugt nur noch eine grau-schwarze Basaltstele von diesem bedeutsamen Zusammenkommen.

Drei Säulen am Ursprung der deutschen Demokratie

Der Weg ist beschwerlich. Steil geht es die ca. drei Kilometer vom Koblenzer Stadtteil Oberwerth am Rhein hoch zum Rittersturz-Plateau. Nur die letzten ca. 150 m Meter des Naturwaldpfades führen abgeflacht auf eine Lichtung am Felsrand zu. Der Weg knickt jäh nach links ab. Auskunft über den Grund gibt ein Schild: „Felssturzgefahr! Betreten strengstens untersagt!“

Verbotsschild am Rand des Ritterstursplateaus

Noch ein paar Schritte durch das frisch leuchtende Grün. Dann sticht an dieser Stelle eine grau-schwarze Stele ins Auge. Nähert man sich dem Gebilde, tauchen mehrere Fahnenstangen und Stellwände auf. Sie verweisen auf das Berghotel, das hier ursprünglich stand und ebenfalls dem weichen Felsen weichen musste.

Auf den mächtigen Basaltquadern, die die Stele kreisförmig umsäumen, sitzt ein junges Pärchen und isst Pizza. Sie genießen die Aussicht und schauen nicht auf die Schautafeln oder den beschrifteten Gedenkstein am Fuß der Basaltsäule. 

Eine bedeutsame Konferenz am tragischen Ort

Damals wie heute ist der Ausblick vom Rittersturzfelsen hinunter zum Rhein malerisch. Seinen Namen verdankt er jedoch einer eher tragischen Geschichte, die inhaltlich viele Parallelen zu den 1948 hier stattgefundenen Ereignissen aufweist. Ein vom Kaiser geächteter Raubritter stürzte sich mit seiner Angebeteten im Arm den Felsen hinunter.

Auch Deutschland trug 1948 die unermessliche Schuld für die Verbrechen des Zweiten Weltkrieges und des Nationalsozialismus.

Wie beim Raubritter, dessen Burg zuvor vom Kaiser zerstört wurde, befand sich Deutschland weiterhin in Trümmern. Die Währungsreform und die Blockade von Westberlin durch die Sowjets starteten, Hunger drohte. So trieb der zunehmende Ost-West-Gegensatz und die desolate wirtschaftliche Situation die westlichen Alliierten an, Fakten für (West-) Deutschlands Zukunft zu schaffen.

Sechs Mächte drängen in London auf Entscheidung der Deutschlandfrage und senden drei Dokumente nach Frankfurt

Vor allem die USA strebten in der Deutschlandfrage eine zügige Abwendung von der sowjetischen Besatzungszone an. Auf der Londoner Sechsmächtekonferenz der Westalliierten im Februar 1948 setzten sich die Amerikaner für die rasche Umsetzung ihres Marshallplans ein. Ziel war es, Westdeutschland möglichst schnell wieder zu einer wirtschaftlichen Eigenständigkeit zu verhelfen. Auch die Briten waren an einer Klärung der Deutschlandfrage interessiert. Nur die Franzosen hatten aus Angst vor einem wiedererstarkenden deutschen Nachbarn weniger Interesse an seiner schnellen Selbständigkeit.

Auf dem durch Zwangsarbeit berüchtigten Frankfurter Firmengelände der IG Farben, das als Hauptquartier der Militärgouverneure diente, wurden drei Dokumente an die deutschen Ministerpräsidenten überreicht. Damit bekamen die Länderchefs keine leichte Aufgabe ins Gepäck: 

  1. Vorbereitung einer westdeutschen verfassungsgebenden Versammlung zum 1. September 1948
  2. Festsetzung der zukünftigen westdeutschen Ländergrenzen (nicht zu groß und nicht zu klein)
  3. Einführung eines Besatzungsstatuts, das den Alliierten weiterhin die Bestimmung der Außen- und Handelspolitik Deutschlands sicherte

Nicht den Parteien oder einem Zentralismus, sondern dem Föderalismus wurde mit diesen Aufgaben die Führung in die Zukunft Deutschlands übertragen. Das Signal war klar: Der deutsche Raubritter sollte nicht als Alleinerbe über ein einheitliches Reich bestimmen. Vielmehr sollte er sich mit seinen Brüdern einigen, damit er nicht nochmals auf dumme Gedanken kommt.

Zudem besaßen die Länder bis dato die einzigen eigenständig arbeitenden Verwaltungen.

Welt im Film 1948:
Bericht über die Frankfurter Konferenz
samt Übergabe der drei Dokumente
an die westdeutschen Ministerpräsidenten

Als Ort der Konferenz wird das Land Rheinland-Pfalz gewählt, das sich in der französischen und nicht in der britisch-amerikanischen Bizone befand. Die damit beabsichtigte Aufwertung dieser bisher isolierten Besatzungszone ist offensichtlich. Es galt, die Ressentiments der Franzosen gegenüber dem deutschen Nachbarn zu lindern. So wurde Gastgeber der Konferenz der erste Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz Peter Altmeier und der Konferenzort die damalige Landeshauptstadt Koblenz.

Wie in anderen Städten auch gab es jedoch kaum repräsentative Konferenzgebäude. Das auf dem Rittersturzfelsen gelegene Berghotel war außen zwar weitgehend intakt geblieben, jedoch stand es innen völlig leer. Außerdem war es von der französischen Militärregierung beschlagnahmt worden. Auf Anfrage stellten die Franzosen das Gebäude zur Verfügung. Dennoch, die Zeit drängte, und so wurde das Gebäude für den Anlass hastig möbliert und mit neuem Inventar herausgeputzt.

Erklärvideo zur Rittersturzkonferenz
von MrWissen2go
(Langversion: 12 Min.,
Kurzversion: 2 Min.)
Dr. Michael F. Feldkamp
(Experte für bundesdeutsche Verfassungsgeschichte)
zu den Gründen der Rittersturzkonferenz

Ein Berghotel eröffnet Deutschlands Blick in die Zukunft

Architektonisch war das ehemalige Berghotel Rittersturz eine Mischung zwischen alt und neu. Die modernen Formen einer bauhausgeprägten Schlichtheit stießen auf mittelalterlich historisierte, hoch aufstrebende Staffelgiebel. Mit viel Phantasie schien der tragische Raubritter so weiterhin mahnend auf die Hotelgäste und die Klippe seines Todessturzes hinabzuschauen. Es ist zu vermuten, dass sich damals auch die Ministerpräsidenten neben den zukunftsweisenden Themen über diesen sagenumwobenen Ort ausgetauscht haben. Auch ihnen war der schmale Grat zwischen Achtung und Ächtung bewusst, auf dem sich die Konferenz bewegte.

Das Konferenzhotel Rittersturz im 3D-Animationsfilm
Das Konferenzhotel Rittersturz
als interaktive 3D-Animation

Das Hotel selbst präsentierte sich mit dem Luxus, der für diese Zeit möglich war. Es bot zudem den einmaligen Ausblick über den Rhein nach Osten und Nordosten. Die Länderchefs blickten auf Deutschland als ein föderales Projekt und gleichzeitig als ein einheitliches Land, das Ostdeutschland mit einschloss.

Ausführliche Informationen zum Rittersturzhotel auf der Plattform KuLadig.

Eine Konferenz steht unter Erfolgsdruck

Am 8. Juli war es soweit. Die Ministerpräsidenten wurden in Staatslimousinen die engen Serpentinen zum Rittersturzfelsen hinaufgefahren.

Im Bewusstsein ihrer großen Verantwortung war das Zusammentreffen herzlich und von gegenseitiger Hochachtung geprägt. Diese galt weniger gegenüber zentralen politischen Kräften oder den Parteien. Obwohl Konrad Adenauer seitens der CDU und Erich Ollenhauer seitens der SPD ebenfalls auf dem Rittersturz erschienen, durften sie an den offiziellen Verhandlungen nicht teilnehmen.

Dr. Feldkamp zur Verhandlungsatmosphäre
auf der Rittersturzkonferenz

Wenig gewürdigt fühlte sich die Presse. Auch sie war zahlreich aus dem In- und Ausland angereist. Von den Organisatoren wurde sie allerdings eher als Belästigung, denn als rechtmäßige Vertretung der Öffentlichkeit behandelt.

Auch an anderen Stellen derselben Ausgabe wird der spärliche Informationsfluss des „Ungastlichen Gastlands“ beklagt. Politiker waren damals noch keine PR-Profis wie in heutiger Zeit. Ihr Handeln war von einem herrschaftlichen Grundverständnis geprägt, das die demokratischen Spielregeln ebenfalls erst erlernen musste.

Auf der anderen Seite sahen sich die Ministerpräsidenten einer hohen Verantwortung gegenübergestellt. Es galt, unter enormem Druck von außen, zunächst einmal untereinander ein gemeinsames Interesse zu entwickeln. Das war schwer genug, zumal die Parteien ebenfalls ihren Einfluss geltend machten.

Die Koblenzer Beschlüsse: Eine Provokation und Enttäuschung für die Westalliierten

Die Ergebnisse der Rittersturzkonferenz fasst die Rhein-Zeitung am 10. Juli 1948 wie folgt zusammen:

Sie vermutete zutreffend, „daß die Ministerpräsidenten an Stelle einer Verfassungsgebenden Versammlung die Schaffung eines Verwaltungsgremiums  für Westdeutschland vorschlagen und den in Frankfurt vorgelegten Entwurf eines Besatzungsstatuts ablehnen werden. Es ist möglich, daß konkrete Anregungen zur Neubegrenzung der deutschen Länder (Hervorhebungen im Original) besonders im rheinischen und südwestdeutschen Raum formuliert werden.“

Tatsächlich wichen die Vorschläge erheblich vom Willen der Alliierten ab. Es sollte keine offizielle Verfassungsgebende Versammlung gegründet werden, sondern ein weniger offizieller Parlamentarischer Rat. Dieser sollte keine westdeutsche Verfassung ins Leben rufen, sondern ein vorläufiges, provisorisches Grundgesetz. Damit war das Ziel gesetzt, die deutsche Frage weiterhin offenzuhalten und nicht die Spaltung Deutschlands in Ost und West zu besiegeln.

Noch selbstbewusster traten die Ministerpräsidenten mit der deutlichen Absage des vorgelegten Besatzungsstatuts auf. Sie forderten vielmehr die Unabhängigkeit des deutschen Außenhandels und die Reduzierung der Bestimmungsbefugnisse der Westalliierten auf ein Mindestmaß.

Dr. Feldkamp zur Reaktion
der westlichen Alliierten auf die Koblenzer Beschlüsse

Die Reaktion der Militärgouverneure folgte prompt. Vor allem der amerikanische General Clay zeigte sich von den Koblenzer Konferenzergebnissen schwer enttäuscht. Aus seiner Sicht hatten die Westdeutschen mit ihren Provisoriumsvorschlägen eine Chance verpasst, der Eigenständigkeit näher zu kommen. Er sah ihr Schicksal nun eher in die Hände der Alliierten und besonders in die des französischen Generals Koenig gelegt.

Zwar war auch aus Sicht der Franzosen nun die deutsche Selbstständigkeit in weitere Ferne gerückt. Jedoch zeigte sich der französische General ebenfalls nicht zufrieden.

Die Westallierten lehnten die Koblenzer Vorschläge in dieser Form also ab. So kam es zu einer weiteren Zusammenkunft der Länderchefs in Rüdesheim. Dort bestätigten sie die Frankfurter Dokumente im Wesentlichen. Die provisorischen Benennungen des Parlamentarischen Rates als verfassungsgebende Versammlung und das Grundgesetz als verfassungsrechtliches Regelwerk blieben jedoch bestehen.

Was bleibt, ist das Grundgesetz, der Föderalismus und die Einheit Deutschlands im Jahr 1990

Mit der Ablehnung der Koblenzer Vorschläge blieb jedoch nicht die Rittersturzkonferenz ohne Erfolg.

Im Gegenteil:

  • Sie machte den (engen) Aktionsspielraum deutlich, in dem sich Deutschland weiterhin bewegte.
  • Sie verhalf der westdeutschen Politik zur inneren Einigung.
  • Sie installierte den deutschen Föderalismus als feste machtvolle Größe neben der Bundesregierung.
  • Und sie setzte die symbolhafte Geltung eines westdeutschen Provisoriums durch. Damit blieb die Hand zur sowjetischen Besatzungszone und später zur DDR weiterhin ausgestreckt.

Auch wenn die Einheit Deutschlands noch 40 Jahre aufgeschoben war, so gelang doch ihr rascher Vollzug genau wegen dieser Provisoriumsentscheidung seitens der Rittersturzkonferenz in Koblenz.

Dr. Feldkamp zur Bedeutung des “provisorischen” Grundgesetzes
für die deutsche Vereinigung von 1990

Epilog

Für den Gastgeber der Rittersturzkonferenz, den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Peter Altmeier, war das Treffen bei Koblenz ein Höhepunkt seines politischen Wirkens. Noch 10 Jahre später sprach er in einer Rede vor den Länderchefs über die Situation und Ereignisse mit gewisser Dramatik:

Da war vor allem aber das Dokument Nr. 1, in dem das ganze Schicksal unseres deutschen Volkes beschlossen schien. Unsere Kollegen, die damals auf dem Rittersturz mit dabei waren, werden sich an die ebenso leidenschaftlichen wie bedächtigen Beratungen jener Konferenz erinnern. Auf der einen Seite die Erkenntnis, dass hier erstmals nach dem Zusammenbruch die
Chance des Zusammenschlusses wenigstens des grösseren Teiles unseres deutschen Volkes geboten wurde. Auf der anderen Seite die bange Frage, ob dadurch angesichts der Haltung der vierten Besatzungsmacht – Sowjetrussland – nicht die Spaltung vertieft oder gar verewigt würde.

aus: Heinz-Günther Borck, Friedrich P. Kahlenberg, Heinz Peter Volkert, Karl-Jürgen Wilbert (Hg.): 50 Jahre Rittersturz. 1948-1998. Die Stunde der Ministerpräsidenten, Koblenz 1998, S. 188.

Die Konferenzteilnehmenden waren sich bereits 1948 über die Bedeutung und Einzigartigkeit ihres Treffens bewusst. So vergaßen sie nicht, auch bleibende Spuren im Goldenen Buch der Stadt Koblenz zu hinterlassen.

Noch heute lässt sich mit der Rittersturzkonferenz einiges über die Demokratie- und Staatswerdung der heutigen Bundesrepublik Deutschland lernen.

Sie führt anschaulich vor Augen, dass politische Willensbildung viel mit Kompromissfähigkeit und Empathie zu tun hat. Damit ist sie ein gutes Beispiel, an dem politisches Handeln im schulischen und außerschulischen Geschichtsunterricht und in der politischen Bildung verdeutlicht werden kann.

Prof. Dr. Wolfgang Woelk zum didaktischen Nutzen der Rittersturzkonferenz im schulischen Geschichts- und Politikunterricht

Didaktisches Material zur Rittersturzkonferenz zum Download (erstellt von Prof. Dr. Wolfgang Woelk, bearbeitet von Jasmin Brötz)

Autor, Produzent und inhaltlich verantwortlich
apl. Prof. Dr. Stefan Meier (st.meier@uni-koblenz.de),
Institut für Kulturwissenschaft der Universität Koblenz (Universitätsstraße 1, 56070 Koblenz)

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